Berlinal 10. Die Mauer der Schande (Deutsche Version)
Berlinals
10. Die Mauer der Schande
Die Mauer - die einzige Mauer der Welt die ohne weitere Erläuterung mit einem Großbuchstaben geschrieben wird, und doch weiß jeder um welche Mauer es sich handelt.
Berlin ist immer noch mit der Mauer verbunden, auch wenn sie am 9. November 1989 "fiel" - vor nunmehr 34 Jahren.
Und das, als eine missverstandene Äußerung eines Politbüromitglieds das Signal für mehrere tausend Ostdeutsche war, zum Grenzübergang Bornholmer Brücke zu eilen, woraufhin die Grenzpolizei dem Druck nicht standhalten konnte und die Mauer sich öffnete.
Seitdem ist die Mauer das Symbol der Stadt für die Millionen von Touristen, die jedes Jahr nach Berlin strömen. "Überschwemmung" ist das richtige Wort: im Jahr 2022 besuchten nicht weniger als 10.400.000 Touristen Berlin.
Woher kommt dieser legendäre Ruf und die Faszination für ein verschwundenes Bauwerk?
Da ist zum einen der kommerzielle Beitrag des Tourismussektors. Die Mauer als Touristenattraktion ist natürlich eine riesige Einnahmequelle - auch wenn es kaum noch Mauerreste gibt und die ehemaligen Grenzgebiete größtenteils bebaut oder in Parks umgewandelt wurden.
Außerdem sind die wenigen Überreste in der Stadt selbst Gegenstand einer manchmal geschmacklosen kommerziellen Nutzung. Die East Side Gallery zum Beispiel ist zu einem Schatten dessen verkommen was sie einmal war - eine überzeugende Anklage gegen den Missbrauch von Macht.
Checkpoint Charlie, der berühmteste Grenzübergang der Mauer in Berlin, ist eine touristische Kopie. Nur ein Überbleibsel des ursprünglichen Grenzpostens ist im Museum der Alliierten in einem Berliner Vorort erhalten geblieben.
Der berühmte Mauerverlauf entlang der Bernauer Straße - heute eine Gedenkstätte - hat mit dem Druck von Bauträgern aller Art zu kämpfen, die in diesem attraktiven Viertel in Mitte das große Geld mit Immobilienprojekten sehen. Die unbebauten Grundstücke dort werden in rasantem Tempo bebaut und die Leerstände aufgefüllt.
Ein zweiter Grund für das anhaltende Interesse liegt natürlich in der einzigartigen Tatsache, dass die Stadt von 1961 bis 1989 in zwei Hälften geteilt war, mit zwei diametral entgegengesetzten politischen Ansichten, Regimen und Entscheidungen.
Schließlich war die Berliner Mauer der greifbarste Aspekt des Eisernen Vorhangs, der Europa in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts unerbittlich in zwei Hälften teilte, von der Adria bis zur Ostsee.
Es stellt sich jedoch die Frage, wie viele Besucher sich die Mühe machen, hinter die glänzende Fassade des touristischen Berlins zu schauen, um zu sehen, was die Mauer wirklich bedeutete.
In erster Linie war sie eine Mauer der Schande.
Stellen Sie sich vor, Sie wachen an einem sonnigen Morgen auf und stellen fest, dass mitten in Ihrer Stadt eine hohe Mauer quer durch das Zentrum und über den Marktplatz gebaut wurde und dass der Bahnhof von der einen oder anderen Seite nicht mehr zugänglich ist.
Jeder Kontakt mit dem anderen Teil ist unmöglich.
Familien wurden auseinandergerissen, Freundeskreise getrennt, und die Geliebte die zufällig im anderen Teil wohnt, ist über Nacht unerreichbar geworden.
Selbst der telefonische Kontakt ist extrem schwierig: Anrufe werden nach Belieben weitergeleitet oder nicht.
So war es im Sommer 1961.
Sie, liebe Leserin, lieber Leser, könnten einwenden dass diese Trennungsmauer nicht an einem Tag gebaut wurde, und dass es in den ersten Tagen sicherlich noch möglich war zu Fuß, durch Springen, Schwimmen oder was auch, immer in den anderen Teil zu gelangen.
Theoretisch haben Sie nicht ganz Unrecht. Aber können Sie sich vorstellen, ein paar Klamotten in eine Reisetasche zu stopfen, hier und da ein Foto der Mauer zu knipsen, etwas Geld zusammenzukratzen und mit zwei Sandwiches in der Brotbox über die noch niedrige Mauer auf die andere Seite zu springen?
Eine niedrige Mauer, auf der Vopos mit vorgehaltener Waffe sogar die Maurer bewachen die die Mauer errichten, um sie an der Flucht auf die andere Seite zu hindern?
Die Erkenntnis, dass man Familie, Freunde und Bekannte vielleicht nie wieder sehen wird, dass die Ausbildung über Nacht abgebrochen wurde, dass man seinen Arbeitsplatz verloren hat.
Das ist es, was Sie an jenem Sommermorgen im Jahr 1961 erlebt haben.
Einige haben es versucht.
Während des Mauerbaus, indem sie aus dem Fenster sprangen, mit manchmal tödlichem Ausgang.
Damals gab es noch keine Schießereien.
Kurze Zeit später wurde es dann ernst. Fluchtversuche über die Mauer aus der Ostzone waren lebensbedrohlich.
Die Grenzpolizei erhielt den Befehl zu schießen:
"Wer unsere Grenze nicht respektiert, der bekommt die Kugel zu spüren".
(DDR-Verteidigungsminister Heinz Hoffman, August 1966)
Nach zwei Warnungen schossen sie auf Treffer.
Und sie schossen auf Treffer, wie die zahlreichen Gedenktafeln entlang der Mauerstrecke zeigen.
Außerdem erhielt der Grenzpolizist der traf, ein Kopfgeld oder eine andere Belohnung. So pervers war das System.
Das erste Todesopfer, Günter Litfin, wurde am 24. August 1961 erschossen - einen Tag, nachdem die D.D.R. die Zahl der Grenzübergänge auf sieben reduziert hatte und kaum 11 Tage, nachdem die erste Stahldrahtsperre in Berlin errichtet worden war - eine Sperre, die kurz darauf zur Mauer werden sollte.
Viele versuchten es weiter, auf jede erdenkliche Art und Weise.
Sie versteckten sich in einem doppelten Stiefel, tauchten in die Spree, fuhren über ein Flaschenzugsystem von einer Zone zur anderen, benutzten einen selbstgebauten Heißluftballon, versteckten sich in Kabelrollen der Berliner Elektrizitätswerke, oder fuhren mit einem beladenen Lastwagen durch vier aufeinanderfolgende Barrikaden über die Glienicker Brücke - einschließlich eines schweren Stahltors.
In Berlin selbst waren mindestens 5075 Fluchtversuche erfolgreich - die Hälfte davon bis Ende 1962.
Eine zweifellos sehr viel höhere Zahl scheiterte.
In der Tat wurde das Überwachungssystem Jahr für Jahr verfeinert.
Hinter der ersten Mauer wurde auf der Ostseite eine zweite Mauer errichtet. Die Zone zwischen den beiden Mauern wurde abgeriegelt.
Viele verloren ihr Leben - meist junge Menschen, die das Leben noch vor sich hatten.
Das war die Mauer.
Diese Mauer war keine geradlinige Mauer. Sie hatte einen unregelmäßigen Verlauf, schlängelte sich durch das Stadtzentrum, schnitt Straßen in zwei Hälften, kroch über Plätze und hinter Grundstücken und Gärten - und schloss sie mit einer hohen Trennwand ab, die kein Tageslicht durchließ.
Die Bernauer Straße war eine schizophrene Straße, die durch die Mauer in zwei Hälften geteilt wurde. Die Häuserreihe seite D.D.R. wurde geräumt, und 2.500 Bewohner mussten sich eine andere Unterkunft suchen.
Alle Fenster und Türen wurden zugemauert.
Können Sie sich die Unterdrückung vorstellen?
Auch das war die Mauer.
Wer sich die Mühe macht es nachzuschlagen, dem steht ein immenses Arsenal an Worten und Bildern zur Verfügung. Denn all dies geschah zu einer Zeit, in der auch Bilder ihren Platz in der Geschichte beanspruchten.
Unzählige Dokumentationen, Filme und Fotoreportagen haben die Mauer als Hauptfigur.
Zu Recht beansprucht die Mauer als Symbol für Machtmissbrauch und Intoleranz weiterhin Aufmerksamkeit.
Darin liegt ihre Bedeutung. Und darin liegt auch die Bedeutung des Geschichtsunterrichts.
Geschichte zielt darauf ab, die Vergangenheit zu erfassen, sie zu analysieren und daraus Lehren für die Zukunft zu ziehen.
Das Fach Geschichte ist daher von größter Bedeutung.
Dies kann nicht genug betont werden, da einige aufgeklärte Geister unter uns der Meinung sind, dass der Geschichtsunterricht in unserer Bildung gekürzt werden sollte.
Diejenigen, die dies tun, sollten - zumindest im übertragenen Sinne ... an die Wand gestellt werden!
Berlin, 2. Dezember 2023
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